Das deutsche Kindertheater hat die Verpflichtung, sich international zu öffnen – wie das Festival Starke Stücke es tut!

Stefan Fischer-Fels, Leiter des Jungen Schauspielhauses Düsseldorf, stellvertretender Vorsitzender der ASSITEJ Deutschland und Vizepräsident der ASSITEJ International, sprach gestern aus Anlass der Eröffnung des Internationalen Kinder- und Jugendtheaterfestivals „Starke Stücke“ in Bad Homburg.

Seine Rede ist ein politisches Statement für die interkulturelle und internationale Öffnung von Kulturinstitutionen:

Liebe Kollegen, liebe Freunde, liebe Anwesende, danke für die Einladung zu diesem traditionsreichen Festival, das wie kein anderes in Deutschland zum 23. Mal Internationalität mit Regionalität verbindet. 

In meiner Eigenschaft als Vice-President of Assitej International bin ich in den letzten Jahren auf allen Kontinenten gewesen, in Argentinien, Brasilien, Australien, Kamerun, Indien, Japan und Korea, in Birmingham und Kristiansand, ja sogar in Linz an der Donau. In vielen Ländern schauen die Theatermacher mit großem Respekt auf die deutsche Kindertheaterlandschaft, auf zuverlässige Etats, feste Häuser, bezahlte Schauspieler, Ausbildungsgänge für alle Theaterberufe und gut organisierte Festivals. – Sie sind überrascht, wenn ich von der frustrierenden Tatsache spreche, dass auch in Deutschland immer noch meistens gilt: kleines Geld für kleine Leute; dass es immer noch Kultur- und Finanzpolitiker gibt, die nicht begreifen, dass Qualität und große Kunst im Kindertheater nicht billig zu haben ist. Kindertheatermacher haben größere Verantwortung und werden dafür schlechter bezahlt – das versteht kein Mensch in Deutschland. Im Ausland verstehen es alle: Es ist fast überall so. Kindertheatertechnisch sind wir immer noch Entwicklungsländer: Schauspieler kämpfen um eine angemessene Bezahlung und ordentliche Arbeitszeiten, Theater kämpfen mit überlasteten Schulen um ihr Recht, Ungewöhnliches und Sperriges auf ihren Bühnen zeigen zu dürfen. Es ist nicht alles schön, auch wenn es von weitem vielleicht so aussieht.

Aber nehmen wir mal an, wir wären reich, dann wäre meine nächste Frage: Was machen wir aus unserem „Reichtum“?

Vielleicht hilft ein zentraler Gedanke der „Sustainable Development Goals“ (SDGs) der UNO: das ist der Gedanke des Teilens. Wenn das deutsche Kindertheater vergleichsweise gut ausgestattet ist, dann hat es vielleicht die Verpflichtung, sich international zu öffnen – wie das Festival Starke Stücke es tut!  – und seine Möglichkeiten mit anderen zu teilen. Nicht nur aus Solidarität. Sondern weil es UNS reicher und klüger macht, wenn wir neue Perspektiven durch Austausch gewinnen.

Wir wissen alle, dass es heute keine wichtigere kulturpolitische Entwicklung gibt als die interkulturelle und internationale Öffnung der deutschen Kulturinstitutionen. – Es geht darum, das Globale Dorf zu errichten, statt Mauern und Zäune zu aufzubauen. Es geht darum, dafür Geschichten und Dramaturgien und faire Kooperationen für das Weltdorf zu entwickeln.

Die interkulturelle und internationale Öffnung deutscher Festivals, deutscher Theater ist der notwendige Schritt in eine Welt, die sich immer mehr als globales Dorf versteht, eine Community, die der AfD und anderen Ängstlichen eine starke Utopie entgegensetzen will: die Utopie der Diversity. Die gilt es zu feiern, zu kritisieren, zu befragen, zum Thema zu machen.

Schauspieler, Regisseure, Autoren, Kooperationspartner – das alles kann nicht mehr nur biodeutsch gedacht und gemacht werden. Es gilt einen neugierigen blick zu entwickeln, auch andere Ausdrucksweisen und Spielweisen und Schreibweisen anzuerkennen und einzubeziehen – und es zu wagen, sie dem Publikum vorzustellen.

Nigeria als Beispiel

 Zum Beispiel durch ein Gastspiel aus Nigeria.

Wie sehr hätte ich mich über die Einladung zur Eröffnung von Starke Stücke gefreut, wenn ich sie mit den geschätzten Künstlern und Kollegen aus Lagos hätte teilen können. Sie wissen sicher, dass es dem Festival nicht gelungen ist, Künstler aus Nigeria mit ihrer hochgelobten Produktion SANDSCAPE nach Deutschland zu bringen.

Die bürokratischen Vorgänge sind äußerst komplex. Aber im Kern fühle ich mich – fühlen sich die Festivalmacher –  um eine wichtige Bereicherung beraubt. Ich finde das empörend. Von zwei Seiten aus gesehen: MEINE Rechte als Theatermacher und Zuschauer werden beschnitten: Hier wurde  mit deutschen Steuergeldern ein kooperatives internationales Projekt produziert und – und dann ausgeladen. Warum? I

Ich weiss zufällig ein wenig über Nigeria Bescheid. Dort gibt es eine hohe Arbeislosgkeitsrate und 50% Analphabetismus. Auf einen Arbeitsplatz kommen 5000 Bewerber. Das Land ist total von internationalen Öl-Firmen abhängig. Ein guter Freund, nigerianischer Refugee, sagte neulich zu mir: „I am here, because you are there.“ Er meinte damit die europäischen Firmenbosse, die auf den feinen Hügellagen in Lagos wohnen und die Arbeitsplätze vergeben oder vernichten. In Nigeria gibt es seit einigen Jahren eine hochvitale, energische, wütende junge Kunst- und Theaterszene. Es ist ein großartiger und tief verzweifelter Versuch von jungen Leuten, Theater als Arbeitsfeld zu etablieren. Sie wollen die besten Leute in ihrem Land behalten. Sie wollen Hoffnung. Sie nutzen die wachsenden Kontakte nach Europa, um ein paar Euro zu verdienen – die sie dann, wie bei unserer Schauspieler Joy – in die Bildung ihres Kindes stecken. Sie sind in Europa, um in Nigeria bleiben zu können. Wenn wir diese Künstler einladen zu Kooperationen und Koproduktionen und Festivals, dann sorgen wir mit einem ganz kleinen Beitrag dafür, dass sie ihre Hoffnung behalten, dass Nigeria ein gutes Land für sie werden könnte. Wenn wir sie also nicht nach Europa reinlassen, dann verlieren sie den Glauben, dass es bei ihnen besser werden kann. Dann machen sie sich möglicherweise auf den Weg, um nach Europa zu kommen. Wer wollte ihnen das Recht absprechen, eine ausweglose Lage zu verlassen? Willkommen! Wir wissen, es ist nicht eure erste Option, sondern oft: die letzte.  

Wie kann es weitergehen? Die Positionierung des Kinder- und Jugendtheaters

Ich schäme mich, dass in unserer geschätzten demokratischen Gesellschaft Künstlern, die wir einladen, uns zu bereichern, die fundamentalen Rechte, die für uns selbstverständlich gelten, vorenthalten werden; zum Beispiel das Recht zu reisen. WIR verlieren etwas, wenn wir sie nicht hierher einlassen. Es ist nicht hinnehmbar, wenn Bürokratie einen Verwandtenbesuch genau so behandelt wie einen Künstleraustausch oder ein Gastspiel: Mit Argwohn. Mit Unterstellung böser Absichten. Und ich frage mich, ob solche Fälle noch Bürokratie sind oder schon gelebter Alltagsrassismus. 

Es nicht hinnehmbar, dass wir Mauern bauen, die nicht einmal die Künstler überwinden können. – Wie wollen wir Trump kritisieren, wenn wir um Europa eine viel größere Mauer gebaut haben?  Wie wollen wir Kindern Werte mitgeben, wenn ihre Gültigkeit am Mittelmeer endet? 

 Es ist Zeit, sich nach innen und außen zu positionieren. Zum Beispiel diese skandalöse Visaverweigerung nicht hinzunehmen. Wer, wenn nicht die Kindertheater sollen international sein. Die meisten Schulklassen, unser Publikum, sind es ja schon. Kindertheater war in den letzten Jahrzehnten Labor und Avantgarde vieler wichtiger Entwicklungen im deutschen Theater, auch durch seine Durchlässigkeit für anderen Traditionen und Kulturen. Die Kindertheater sind auch Avantgarde im internationalen Austausch, wie man alle drei Jahre beim Assitej-World Congress so eindrucksvoll erleben kann. Vom 17.-27. Mai 2017 findet dieser Kongress zum ersten Mal in Afrika, in Kapstadt, statt. Herzliche Einladung!

Greetings to Lagos

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Ich richte meine Grüße an die Künstler aus Lagos, die heute nicht bei uns sein können: Tolu Aina, Joy Akrah, Jubril Gbadamosi, Anifiok Inyang, Michael Ajimati, Abisoye Kadiku! Nur der junge Regisseur Joshua Alabi hat über das Next Generation Programm doch noch hierher kommen können! Es geht docht! Welcome, Joshua! Let’s talk about your work! And we will try to find other ways to invite you to Germany! 

Und wenn wir jetzt Spaß haben und ein Festival feiern, dann lasst uns an diejenigen denken, die nicht mit uns hier sein können. Danke.

 Photo: O.G. worldwide Ltd. 

Weiter diskutieren!

Das Festival „Starke Stücke“ lädt am Samstag, 4. März, um 18 Uhr gemeinsam mit der ASSITEJ zur Präsentation des IXYPSILONZETT Jahrbuches für Kinder- und Jugendtheater  mit dem Titel „Geschlossene Gesellschaft? Künstlerische Interventionen zur kulturellen Vielfalt“ mit Wolfgang Schneider (Universität Hildesheim) und Luise Rist (Boat People Projekt, Göttingen) ein. Am Montag, 6. März um 12:30 Uhr berichten Michael Lurse (Helios Theater Hamm) und Susanne Freiling (Theaterhaus Frankfurt) unter dem Titel „Fair Food – Fair Cooperation“ über künstlerische Koproduktionen und laden zur politischen Debatte ein.

 

 

 

2 Kommentare

  1. […] Im März 2017 erhielten Künstler aus Nigeria kein Visum zur Einreise nach Deutschland, um ihre Produktion „Sandscapes“ bei den Festivals „Starke Stücke“ und „FRATZ“ zu zeigen. Stefan Fischer-Fels (Stellvertretender Vorsitzender der ASSITEJ e.V. und Mitglied des Vorstands der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche) betonte in seiner Rede zur Eröffnung des Festivals „Starke Stücke“: […]

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